Improvisierte Logik

classic.com, Dr. Aron Sayed, 04.07.2019

Alle sechs Sonaten und Partiten für Violine solo BWV 1001-1006 von Johann Sebastian Bach an einem einzigen Abend? Im großen Saal der Elbphilharmonie für 2.100 Menschen, der für seine gnadenlos präzise Akustik geradezu berüchtigt ist? Kann das gut gehen? Und wie es das kann! Schließlich war der Solist des Abends mit Christian Tetzlaff jemand, der dieses ,alte Testament’ für Violine solo nicht nur bereits dreimal auf CD eingespielt hat, sondern auch bereits häufig damit aufgetreten ist.
Gleichwohl hatte diese Situation von Beginn an Prüfungscharakter, waren doch 2.100 Augenpaare nur auf diese eine einsame Person mit Instrument im Lichtkegel gerichtet. Dies zumal die brutal klaren akustischen Verhältnisse der Elbphilharmonie jeden Einzelton, jeden Doppelgriff, jeden arpeggierten Akkord und jedes Detail, jede winzige Ungenauigkeit in der Tongebung zum Vorschein brachten, ganz anders als in einer durch Hall abgemilderten Kirche. Darum war auch der Charakter des Konzerts von Beginn an kein sakraler, sondern ein ganz weltlicher, wenn auch erfüllt von expressiver Innerlichkeit.

Zu Tränen rührend

Doch Christian Tetzlaff wäre kein Ausnahmegeiger, wenn er sich nicht darauf eingestellt hätte. Und so klangen das Presto aus der g-Moll-Sonate, das Double aus der h-Moll-Partita und das Preludio aus der E-Dur-Partita fast so, als ob sie nicht Bach, sondern Paganini komponiert hätte. Tetzlaff nahm die scheinbar endlosen Läufe in einem irrsinnigen Tempo, so dass die Entfaltung der Bach’schen Fortspinnungslogik das Ohr ein ums andere Mal überwältigte. Am Ende des ‘Double. Presto’ ging sogar ein Raunen durch das Publikum, ob der soeben dargebotenen Virtuosität. Das heißt jedoch nicht, dass Tetzlaffs Zugriff ein oberflächlicher gewesen wäre. Im Gegenteil, durch die Steigerung ins Extreme gelangten die langsamen Sätze wie die Sarabande in BWV 1002 oder das Largo in BWV 1005 zu umso stärkerer Wirkung. Alleine die bloße Farbpracht der ,jauchzenden’ Doppelgriffe und ,schluchzenden’ Akkorde rührten zu Tränen, sodass auch der Dur-Mittelteil der Ciaconna mit all seiner Macht entfaltet wurde. Nicht zuletzt wurden die drei Fugen-Sätze dieses Zyklus auf diese Weise zu expressiven Mittelpunkten, die sich bis ins Unerhörte steigerten.

Bei aller musikalischen Durchdringung setzte Tetzlaff jedoch nicht nur in der Tempogestaltung und der Agogik individuelle Akzente. Im Grave der a-Moll-Sonate etwa betonte er zwei Doppelgriffe auf der G- und D-Saite so stark, dass sich kurz das Tor zum 20. Jahrhundert öffnete. Der historischen Aufführungspraxis geschuldet waren dagegen einige, gleichwohl sparsam eingesetzte Verzierungen, wie etwa im Adagio der g-Moll Sonate. Gelegentliche Vibratotupfer dienten dabei als dramaturgisch ordnendes Mittel der Klangrede. überhaupt wirkte Tetzlaffs Sicht auf die Sonaten und Partiten durch die frei fließende Gestaltung gelegentlich wie eine einzige große Improvisation. Spielte er in BWV 1001 und 1002 noch vom Blatt, stellte er in BWV 1003 – nach einem Wechsel des Instruments? – den Notenständer beiseite. Nach der Pause war dieser dann ganz verschwunden, der Vortrag wurde jedoch immer klarer. Wo es anfangs noch leichte Unsauberkeiten gegeben hatte, schwebte die Musik spätestens ab BWV 1003 über allen irdischen Hindernissen. Bachs logische Rätsel, geboren aus dem Geist der Improvisation – hier wurde es Ereignis. Dafür gab es am Ende Standing Ovations, die Tetzlaff mit der wohl kürzesten Zugabe der Welt – in Hamburg sagt man ,tschüss’ – schelmisch belohnte.

Improvisierte Logik

classic.com, Dr. Aron Sayed, 04.07.2019

Alle sechs Sonaten und Partiten für Violine solo BWV 1001-1006 von Johann Sebastian Bach an einem einzigen Abend? Im großen Saal der Elbphilharmonie für 2.100 Menschen, der für seine gnadenlos präzise Akustik geradezu berüchtigt ist? Kann das gut gehen? Und wie es das kann! Schließlich war der Solist des Abends mit Christian Tetzlaff jemand, der dieses ,alte Testament’ für Violine solo nicht nur bereits dreimal auf CD eingespielt hat, sondern auch bereits häufig damit aufgetreten ist.
Gleichwohl hatte diese Situation von Beginn an Prüfungscharakter, waren doch 2.100 Augenpaare nur auf diese eine einsame Person mit Instrument im Lichtkegel gerichtet. Dies zumal die brutal klaren akustischen Verhältnisse der Elbphilharmonie jeden Einzelton, jeden Doppelgriff, jeden arpeggierten Akkord und jedes Detail, jede winzige Ungenauigkeit in der Tongebung zum Vorschein brachten, ganz anders als in einer durch Hall abgemilderten Kirche. Darum war auch der Charakter des Konzerts von Beginn an kein sakraler, sondern ein ganz weltlicher, wenn auch erfüllt von expressiver Innerlichkeit.

Zu Tränen rührend

Doch Christian Tetzlaff wäre kein Ausnahmegeiger, wenn er sich nicht darauf eingestellt hätte. Und so klangen das Presto aus der g-Moll-Sonate, das Double aus der h-Moll-Partita und das Preludio aus der E-Dur-Partita fast so, als ob sie nicht Bach, sondern Paganini komponiert hätte. Tetzlaff nahm die scheinbar endlosen Läufe in einem irrsinnigen Tempo, so dass die Entfaltung der Bach’schen Fortspinnungslogik das Ohr ein ums andere Mal überwältigte. Am Ende des ‘Double. Presto’ ging sogar ein Raunen durch das Publikum, ob der soeben dargebotenen Virtuosität. Das heißt jedoch nicht, dass Tetzlaffs Zugriff ein oberflächlicher gewesen wäre. Im Gegenteil, durch die Steigerung ins Extreme gelangten die langsamen Sätze wie die Sarabande in BWV 1002 oder das Largo in BWV 1005 zu umso stärkerer Wirkung. Alleine die bloße Farbpracht der ,jauchzenden’ Doppelgriffe und ,schluchzenden’ Akkorde rührten zu Tränen, sodass auch der Dur-Mittelteil der Ciaconna mit all seiner Macht entfaltet wurde. Nicht zuletzt wurden die drei Fugen-Sätze dieses Zyklus auf diese Weise zu expressiven Mittelpunkten, die sich bis ins Unerhörte steigerten.

Bei aller musikalischen Durchdringung setzte Tetzlaff jedoch nicht nur in der Tempogestaltung und der Agogik individuelle Akzente. Im Grave der a-Moll-Sonate etwa betonte er zwei Doppelgriffe auf der G- und D-Saite so stark, dass sich kurz das Tor zum 20. Jahrhundert öffnete. Der historischen Aufführungspraxis geschuldet waren dagegen einige, gleichwohl sparsam eingesetzte Verzierungen, wie etwa im Adagio der g-Moll Sonate. Gelegentliche Vibratotupfer dienten dabei als dramaturgisch ordnendes Mittel der Klangrede. überhaupt wirkte Tetzlaffs Sicht auf die Sonaten und Partiten durch die frei fließende Gestaltung gelegentlich wie eine einzige große Improvisation. Spielte er in BWV 1001 und 1002 noch vom Blatt, stellte er in BWV 1003 – nach einem Wechsel des Instruments? – den Notenständer beiseite. Nach der Pause war dieser dann ganz verschwunden, der Vortrag wurde jedoch immer klarer. Wo es anfangs noch leichte Unsauberkeiten gegeben hatte, schwebte die Musik spätestens ab BWV 1003 über allen irdischen Hindernissen. Bachs logische Rätsel, geboren aus dem Geist der Improvisation – hier wurde es Ereignis. Dafür gab es am Ende Standing Ovations, die Tetzlaff mit der wohl kürzesten Zugabe der Welt – in Hamburg sagt man ,tschüss’ – schelmisch belohnte.